Das gestrige Eno-Schlußwort eröffnet ein längst überfälliges Abuse A-Z,
eine Sammlung kreativer Ideen gegen den Strich:
12″ – Das Format der 12 Zoll Maxi-Single wurde von Tom Moulton eher zufällig „erfunden“, wie auch sein legendärer „Disco Break“.
1210 – der direktangetriebene Plattenspieler als Gallionsfigur für die Entwicklung der DJ Kultur mitsamt allen Spielarten des Turntablism)
>>Let the accidents work for you.<< >>Der All-Button-Modus ist der Prototyp einer „Fehlbedienung“, deren einzigartige Resultate selbst zum Klassiker geworden sind. Drückt man am [legendären Schlagzeugkompressor, Urei] 1176 alle Ratio-Taster auf einmal, verschieben sich zahlreiche seiner Arbeitspunkte. So entsteht eine charakteristische Effektkompression, die in dieser Form kein anderes Gerät liefern kann.<< Sound & Recording 02/12
Bandmaschine: als Vorbild/Vater vieler Effektgeräte: Echo, Kompression/Bandsättigung, Phasing & Flanging, Pitch, Reverse; als Tool für den Loop; als Wegbereiter der Mehrspur-Collage
>>Die Presets mussten schon immer als erstes überwunden werden. Denn wer sich mit Werkseinstellungen abspeisen lässt, hat nichts begriffen. Die 16-Jährigen, die als allererstes die Bedienungsanleitung wegschmeissen und für die elektronische Musik neue Sounds durch herumexperimentieren definieren – um die geht es.<<
Friedrich Kittler in Spex #314
Circuit Bending (Umlöten, die Parameter-Palette mit neuen Reglern/Eingriffsmöglichkeiten erweitern, Design pimpen!)
>>Wir wollten Regeln brechen, die Codes missachten, die typischen Formen der Popmusik unterminieren. Wir wollten Pop dekonstruieren, sein Gesicht verändern.<< Ryiuchi Sakamoto in Spex # 324 über das Yellow Magic Orchestra.
Creative Perversion of technology: Mark J. Butler borgt sich für sein Buch „Unlocking the Groove“/Seite 68 diesen Begriff von Brewster und Broughton und Johannes Ismaiel-Wendt erläutert: >>Creative Perversion ist ein Grundstein der EDM-Ästhetik, der traditionelle Semantiken, wie handwerkliches Können und Authentizität neu zu denken zwingt. EDM [electronic dance music] hat eigene Produktionsweisen, woraus sich auch eigene Vorstellungen davon ergeben, was ein musikalisches Werk ist und wer sich Künstler schimpfen darf.<<
Crossmapping (die Regeln des einen auf das andere anwenden…)
DIY und Zufall schaffen neuen Spielraum.
Don’ts als Marschrichtung.
Eklektizismus (ist für mich ein positiver Begriff und auch Motto: einfach mal alle Lieblingszutaten zusammenschmeißen!)
>>Die Evolution der digitalen elektronischen Musik lässt sich immer wieder zurückführen auf die Erfindung neuer Instrumente, neuer Softwares und neuer Aufnahmetechniken – oder auf Unfälle und >unsachgemäße< Benutzung von Computern. Alles Neue – und der Fehler fällt in diesem Sinne auch unter das Neue – führt voraussagbar zu neuen Ergebnissen.<<
Kode 9 im Spex #321 Interview
Fehler kultivieren! (z.B. den schlecht geschnittenen Loop, den Defekt eines Geräts à la [Waldorf 4-]Pole, eine unabsichtliche Aufnahme…)
Fehler encore: >>There are plenty of mistakes on the record which add character.<< Glenn Kotche/Drumhead Magazine Spring 2008
>>“Ich werde nie vergessen“, sagte er [Malcom McLaren] in einem Gespräch vor zwei Jahren, „wie einer meiner Professoren die Arbeiten des Spätimpressionisten Pierre Bonnard erklärte: ,Die Fehler sind es, die ihn von einem Amateur in einen großen Künstler verwandelt haben. Er zeigte seine Fehler!'“<< taz, 10.04.2010
>>Einsätze gegen die Gebrauchsanleitung gehören auch zur Technikgeschichte der Pop-Musik.
Underground Musik definiert sich nicht zuletzt dadurch, dass die eingesetzte Technologie gegen ihre eigentliche Bestimmung verwendet wird.<<
Ulf Poschardt, DJ Culture
Geräte umnützen: A/B-Box als „Aux-Send meiner Echo-Konzepte“, „Effektgerät verkehrt“ (einfach mal anders integrieren oder verketten), Proco Rat pedal as a mic preamp, Roland TB-303 (DJ Pierre schneidert aus der biederen Bass-Begleit-Maschine einen Ästhetik-Rahmen für Acid House), Preset Box (J. M. Jarre masht mit seiner Mini Pops 7 zwei Tänze: „Slow Rock“ und „Beguine“, siehe auch All-Button-Modus), Taschenrechner & Spielzeug (als Klangspender für diverse Kraftwerktitel, z.B. Casio FX-501P, TI Language Translator, TI Speak&Spell, Mattel Bee Gees), Volumenpedal+Insertkabel=Expressionpedal
>>Ja, manches wird erst brauchbar, wenn man es umkehrt.<< (Frieder Butzmann)
Künstleridentität?
Verschiedene Varianten zum traditionellen Autoren-Modell (= Präsentation als guter Musiker, der sein Handwerk auf besondere Weise beherrscht),
von Kraftwerk, die sich (spätestens ab „Mensch-Maschine“) sich als Band zurücknehmen und „sich zur Verlängerung der Maschinen“ erklären. Siehe Mercedes Bunz „Das Mensch-Maschine-Verhältnis. Medientheorie mit Kraftwerk, Underground Resistance und Missy Elliott“);
über anonyme, verschleierte, maskierte Künstler in HipHop, Techno, Drum’N Bass, die lieber ihre Produkte/Inhalte für sich sprechen lassen (- gerne kombiniert mit dem Wort „Underground“);
hin zur völligen Fake-Identiät bzw. zum ausschliesslichen Produkt.
Mash-Up (das Übereinanderlegen zweier bezugsfreier Titel funktioniert als Bastard Pop wie als „Third Record“. Aber auch krasser Genre-Mix bzw. schräge Bearbeitungsansätze = Cover-Versionen à la Señor Coconut oder Acid Brass)
Mischpult (wird beim Dub selbstverständlich als Instrument verstanden, check mal den Feedback loop >>…gradually turn up the aux send on the return channel(s), so that you’re sending the returned signal from the delay unit back to its own input.<<), ist aber auch für zufällige Überraschung gut: Hugh Padgham entdeckte dank des SSL-Talkbacks den „gated reverb“ Drumsound.
„Oblique Strategies“
>>…wenn man etwas allein vom Kopf her angeht, dann gibt es immer etwas, was unnatürlich ist. Musik sollte sich organisch anfühlen. Sie braucht ein Element der Improvisation. Leider ist dies inzwischen weitgehend aus der Musik getilgt. Improvisation steckt im Grunde genommen in allen Fehlern und Experimenten. Ich bedaure, dass Fehler heute aus der Musik gelöscht werden, weil alles perfekt sein muss. Perfekt heißt, dass man an einer unveränderlichen Formel festhält, von der man weiß, dass sie funktioniert. Das finde ich öde. Ich strebe nach Erfahrung, und es ist mir ganz egal, was diese Erfahrung ist. Ich will etwas fühlen, was ich zuvor noch nicht so gefühlt habe.<<
Hank Shocklee (The Bomb Squad) im taz Interview.
Präparieren (Klavier à la John Cage; natürlich deine Becken und Trommeln, z.B. mit Gaffa, Kette, Vinyl-Schallplatte oder CD, Geschirrtuch, Papier, Stein(en), Luftschlauch, Geld, Piezos,umgedrehtem Fell, Rasseln, Schellen, Glöckchen, Diktiergerät, Buddha Machine, …to be continued; das Schlagmaterial muss auch nicht immer nur Vollholz sein, denk an Filz, Metalldrähte, Bambusbündel, Reisig, sonstige Besen & Bürsten, Schellenstab, Kombinationen mit Schüttelperkussion, deine Hände,…und selbst das klassische Instrumentarium kann ersetzt werden, die Kick durch ein Koffer, die Snare von einer gelegten Gitarre, Becken durch Backbleche, Metall-Arbeiten und und und)
Sampling & DAW (…Morphing 2.0)
>>“Serendipity“ Wie im Märchen die Prinzen von Serendip stoßen wir als Leser oder Hörer auf einen Schatz, den wir gar nicht gesucht haben – die zufällige Begegnung mit dem Faszinierenden.<< Norbert Bolz in der taz 09.10.2010
>>Uncertainty is the basis for a lot of my work. One always operates somewhere between the totally predictable and the totally unpredictable and to me the „source of uncertainty“, as we called it, was a way of aiding the composer. The predictabilities could be highly defined or you could have a sequence of totally random numbers. We had voltage control of the randomness and of the rate of change so that you could randomize the rate of change. In this way you could make patterns that were of more interest than patterns that are totally random.<< David Dunn, „A History of Electronic Music Pioneers part 2“ >>Aus Unfällen, aus dem Ungeplanten, entstehen oft die interessantesten Ergebnisse! Nur so, im bewussten Befolgen und Brechen von Regeln, können mit etwas Glück Songs entstehen, die ewig gültig sind. In der klassischen Musik verhält es sich übrigens ähnlich. Dort steigern sich die Komponisten oft im Laufe der Jahre, weil sich ihr Gespür für das Erlaubte und das Verbotene verfeinert und sie das Verbotene gezielter einsetzen.<< Chris Lowe („Pet Shop Boys“)/Spex #319 >>Und den Fehler als Chance zu sehen. Schließlich ist der erste Dub-Track aus Versehen entstanden. Tubby, der Tontechniker, lässt versehentlich Teile der Vokalspur weg, die Platte wird gepresst, und fertig ist das Dub-Instrumental. Fortan erscheinen die Singles auf Jamaika mit einer Dub-Version auf der B-Seite, bald folgen 12-Inch-Maxis mit integriertem Dub-Teil.<<
Klaus Walter in der taz 03.07.2009
Vocal-Tools: Der Vocoder musste sich zunächst im 2. Weltkrieg als Sprachverschlüsseler beweisen und weitere Aufgaben im Telefonsektor bewältigen, bevor er in der Musikindustrie seinen Platz fand, als Effektgerät zur Generation von Roboterstimmen. Und >>Im Sinne des Erfinders dient Autotune der Perfektionierung von Stimmen. Unebenheiten ausgleichen, Misstöne glätten. Bis irgendwer [Cher 1998 mit „Believe“] den Reiz der Übertreibung entdeckt: Das metallisch roboterhafte Flirren, Sirren, Summen auf der Stimme bekommt eine eigene Faszination, das Unsichtbare, Ungreifbare nimmt haptische Gestalt an.<< Klaus Walter in De:Bug 145 >>A lot of my ideas start with looking at a tool and thinking what else you could do with it other than what it was intended for.<<
Brian Eno
würfeln? (naja, ich habe noch kein so richtigen Zugang zum Aleatorik-Becher gefunden…)
Über das Ziel hinausschießen, zum Beispiel einen Fill-In nicht auf der „Eins“ beenden…

Abschliessend, von anderer Warte noch Ryan Hildebrand’s Gedanken und umfangreiche Hörbeispielsammlung zum Thema: Creative misuse and abuse of musical tools und mein vorläufiges Fazit(?)
Regeln hinterfragen, Genre-Grenzen öffnen, vermeintliche NoGos überwinden, manual no manual! und wie immer:
einfach machen!